Marc Rath zum Superwahljahr 4 min
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"Meinung zu Gast" Demokratie neu leben – die Chancen eines spannenden Wahljahres 2024

29. Dezember 2023, 05:00 Uhr

"Meinung zu Gast"-Autor Marc Rath kritisiert, dass wir das Streiten verlernt haben und plädiert für eine neue Streitkultur. Denn die Ergebnisse der nächsten Wahlen könnten ein verändertes Denken erfordern, da womöglich ganz neue Konstellationen notwendig sein werden.

Das Jahr 2023 hat bereits einen Vorgeschmack geboten – im neuen Jahr dürften sich viele Kontroversen in der Politik und in unserer Gesellschaft noch zuspitzen. Da sind Ängste vor Verlusten und der Verschlechterung der persönlichen Lebensverhältnisse. Hinzu kommt eine von Kriegen überschattete weltpolitische Lage. Und über allem lastet eine große Unübersichtlichkeit, wie entscheidende Herausforderungen wie Klimawandel, Zuwanderung und auch wirtschaftliche Stabilität bewältigt werden können.

Die Auseinandersetzungen darüber nehmen Jahr für Jahr an Schärfe zu. Nicht nur in der großen Politik, sondern auch im direkten persönlichen Umfeld – in Familien, Freundeskreisen oder am Arbeitsplatz. Ende 2024 könnte daher manches anders sein. Nicht zuletzt hängt dies von spannenden Wahlen in Mitteldeutschland und darüber hinaus ab.

Meinung zu Gast  In der Rubrik "Meinung zu Gast" analysieren und kommentieren Medienschaffende aus Mitteldeutschland Transformations- und Veränderungsthemen: faktenbasiert, pointiert und regional verortet. Die Beiträge erscheinen freitags auf mdr.de und in der MDR AKTUELL App. Hören können Sie "Meinung zu Gast" dann jeweils am Sonntag im Nachrichtenradio MDR AKTUELL.

Europawahl könnte Weichen stellen

Da ist zunächst einmal die Europawahl am 9. Juni. Es ist eine Wahl, bei der es scheinbar um wenig geht. Kein Kanzler steht da zur Wahl, nicht mal eine Regierung wird aus dem Abstimmungsergebnis der 27 Mitgliedsstaaten gebildet. Für manch eine Wählerin und einen Wähler ist das auch die Gelegenheit für Experimente. Und genau da liegt die Herausforderung.

Viele politische Beobachter fürchten, dass die AfD da auf einer großen Welle surfen wird. Auf der anderen Seite – wenn man das überhaupt so sagen kann – dürfte Sahra Wagenknecht mit ihren Verbündeten erstmals auflaufen und will für eine Überraschung sorgen. Europawahlen sind Stimmungswahlen und der Ausgang ungewiss. 2019 katapultierten sich übrigens die Grünen erstmals bei einer nationalen Wahl über 20 Prozent. Es war die Zeit der Hochkonjunktur für die Fridays-for-Future-Bewegung.

Ganz Deutschland schaut auf Landtagswahlen im Osten

Heute hat das Wort Klimapolitik noch eine ganz andere Bedeutung. Es geht in diesem Wahljahr auch um das politische Klima in diesem Land. Und neben der Europawahl sind es nicht zuletzt die drei Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg, die eine politische Zeitenwende bringen könnten.

Können sich die Ministerpräsidenten in ihren Ämtern halten? Wie stark wird die AfD, die in vielen Umfragen derzeit ganz vorne liegt? Wer schafft überhaupt den Sprung in die Landesparlamente und wer nicht? Fragen wie diese sind Stoff für vielerlei Spekulationen. Mit einem Gedanken sollte man sich aber zum Auftakt dieses Wahljahres schon einmal vertraut machen – die Wählerschaft könnte der Politik Ergebnisse auftischen, die keine der bisher üblichen Konstellationen ermöglichen.

Neue Streitkultur als Chance für die Demokratie

Und dann? Fallen dann viel zitierte und beschworene Brandmauern oder Unvereinbarkeitsbeschlüsse? Gibt es bewusst – und nicht wie jetzt in Thüringen aus Not – gebildete Minderheitsregierungen mit wechselnden Mehrheiten? Oder Regierungen, die sich aus zumeist ungebundenen Mitgliedern mit Fachexpertise zusammensetzen? Die Demokratie-Theorien halten hier spannende Modelle bereit, die etwa in Skandinavien längst in der Praxis erprobt wurden. Es wäre hierzulande ein wirklicher Neuanfang. Einer, der aber eines zwingend voraussetzt: eine andere Kultur des Streits in der politischen Auseinandersetzung.

Die ist völlig unabhängig von den Wahlausgängen in jedem Fall nötig. Die vielen Zuspitzungen, nicht zuletzt aufgeladen über die digitalen Kanäle, führen zu einer Aufregungs- und Erregungs-Demokratie, in der es uns schwer fällt, kontrovers zu diskutieren, Gegensätze auszuhalten und auch einmal der vermeintlich "anderen Seite" zuzustimmen. Denn: Muss eine Regierung eine ganze Wahlperiode über immer starr abstimmen, so dass Initiativen der Opposition praktisch keine Chance haben? Das spiegelt doch die Realität so wenig wider, wie das überholte Familienmodell, bei dem allein der Vater das Sagen hat.

Marc Rath Chefredakteur Mitteldeutsche Zeitung und Volksstimme
Bildrechte: Andreas Stedtler (MZ)

 Marc Rath Marc Rath ist der Chefredakteur der "Mitteldeutschen Zeitung" und der "Volksstimme". In der Reihe "Meinung zu Gast" kommentiert er als Gastautor Transformations- und Veränderungsthemen in Mitteldeutschland.

Blicken wir jetzt aber positiv ins neue Jahr: Vielleicht können vermeintlich schwierige Wahlergebnisse unserer Demokratie sogar neues Leben einhauchen. Indem auf der Basis eines klaren Wertesystems Zwischentöne wieder stärker beachtet werden und es vor allem um gute Ideen geht, weniger um die Ideengeber. Das bedeutet nicht zuletzt die Abkehr von einer ständigen verbalen Eskalation – dann hätten auch Hass und Hetze keinen Platz.

Redaktioneller Hinweis Kommentare geben grundsätzlich die Meinung des Autors oder der Autorin wieder und nicht die der Redaktion.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL – Das Nachrichtenradio | 31. Dezember 2023 | 09:35 Uhr

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