Politische Situation Unklare Politik gegen Lebensmittelverschwendung

31. August 2021, 18:08 Uhr

Das Problem der Lebensmittelverschwendung geht weit über den Bereich der Ernährung hinaus und betrifft viele gesellschaftliche Institutionen. Dieses Thema erlangt auch politisch, wirtschaftlich und rechtlich Aufmerksamkeit. Ob Deutschland einen Plan für die Reduzierung von Lebensmittelabfällen hat, wer schuldig ist und was wir ändern können, erklären die Expert/-innen Hans-Joachim Fuchtel und Renate Künast.

Grafitto: "Bio kaufen reicht nicht" steht an eine Wand geschrieben – davor teilweise sichtbar abgestellte Fahrräder
Bio kaufen ist gut für die Umwelt. Hilft aber nicht automatisch gegen Lebensmittelverschwendung. Bildrechte: imago images/Müller-Stauffenberg

Obwohl die Strategie der Reduzierung von Lebensmittelabfällen auch auf der europäischen Ebene abgestimmt wurde, verbessern sich die Zahlen nicht. Eine Studie der Universität Stuttgart hat ergeben, dass 2011 in Deutschland 10,9 Millionen Tonnen Lebensmittel verschwendet wurden. Laut einer Studie, die das Thünen-Institut 2015 veröffentlicht hat, stieg in diesem Jahr die Zahl auf ca. 12,7 Millionen Tonnen.

Ebenfalls 2015 beschloss die Weltgemeinschaft die Agenda 2030. Eines von 17 Zielen ist dabei, nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sicherzustellen. Konkret bedeutet das unter anderem, dass die Lebensmittelverschwendung bis 2030 halbiert werden muss. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) hält an diesem Ziel fest und Bundeskanzlerin Angela Merkel ist optimistisch: "Noch können wir die Ziele erreichen."

Lebensmittelverschwendung halbieren – Ziel erreichbar?

Doch ist nicht alles in der Praxis so, wie es auf dem Papier steht. Laut eines Gutachtens aus dem Jahr 2020 vom Wissenschaftlichen Beirat des Ministeriums (WBAE) ist dieses Ziel mit dem derzeitigen Einsatz nicht erreichbar. Es gebe eine beachtliche Lücke zwischen dem gesellschaftlich breit akzeptierten Ziel und dem verfügbaren Instrumentarium, so der WBAE.

Außen-Porträt von Frau mit kürzeren, blonden Haaren und Sakko, blickt freundlich in die Kamera
Bildrechte: Laurence Chaperon

Renate Künast (B'90/Grüne) … ist Sprecherin für Ernährungspolitik und ehemalige Ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.

Porträt von Mann mit lockigen, kürzeren Haaren, Brille, Anzug und Oberlippenbart, blickt freundlich in Kamera
Bildrechte: BMEL/Thomas Imo

Hans-Joachim Fuchtel (CDU) … ist Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft.

Auf der Website der Bundesregierung steht deutlich: "Deutschland hat sich früh zu einer ambitionierten Umsetzung bekannt." Wo liegt das Problem, dass die praktische Umsetzung nicht wie geplant verläuft? Ist die Pandemie schuld? Zwar stimmt das BMEL zu, dass die besonderen Bedingungen viel in der Gesellschaft, Wirtschaft und am Konsumverhalten geändert haben. Der Parlamentarische Staatssekretär bei Bundesministerin Julia Klöckner, Hans-Joachim Fuchtel, betont, dass der vom BMEL eingeschlagene Weg nicht nur den Handlungsempfehlungen des WBAE entspricht, sondern alle Akteure der Lebensmittelkette engagiert mitarbeiten, um die vereinbarten Ziele zu erreichen.

Doch das Ministerium steht in der Kritik: Besonders die Grünen fordern, die Strukturen im Agrar- und Rechtssektor komplett zu verändern. "Der Witz ist aber, dass auch Politikerinnen und Politiker, die dafür kämpfen, den Druck von außen brauchen. Wenn man im Parlament steht, muss man sagen können: 'Schauen Sie mal, die Menschen kaufen anders ein!'", erklärt Renate Künast. Sie war früher selbst Ernährungsministerin und ist heute die Sprecherin für Ernährungspolitik der Grünen. Sie ist der Meinung, dass das BMEL den Fokus zu wenig auf die Lebensmittel setzt, die vernichtet werden, bevor sie einen privaten Kühlschrank erreichen. Das sagen auch Forschende.

Hans-Joachim Fuchtel kann diese Kritik nicht nachvollziehen: "Mit unserer Strategie gehen wir das Problem entlang der gesamten Lebensmittelversorgungskette an. Alle Beteiligten werden in die Pflicht genommen – auch mit gesetzlichen Maßnahmen." Ziel der Strategie sei es, die Lebensmittelversorgungskette so zu gestalten, dass Abfälle erst gar nicht entstehen könnten. Die beschriebene Strategie scheint aber nicht genug auszureichen: Laut Thünen-Institut waren 2015 rund die Hälfte der Abfälle in der gesamten Wertschöpfungs- und Verbrauchskette vermeidbar.

Sensibilisierung von Verbraucherinnen und Verbrauchern

Das Ministerium unterstütze aber auch bürgerschaftliche Initiativen: "Wir sensibilisieren und informieren Verbraucherinnen und Verbraucher auf verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlichen Maßnahmen”, sagt Fuchtel. Ein Beispiel sei die BMEL-Kampagne Zu gut für die Tonne!, die das Bewusstsein für den Umgang mit Lebensmitteln erhöht habe. Sie gibt unter anderem praktische Empfehlungen zur Einkaufsplanung und der Verwertung übrig gebliebener Lebensmittel. Oder die Beste Reste-App mit Rezeptvorschlägen für übrig gebliebene Lebensmittel. (Die Bewertungen in den App-Stores sind allerdings nicht ganz so gut.)

Verhaltensänderungen könne man nur mit Mobilisierung aller Akteure erreichen, erklärt Fuchtel. Deshalb sei ein weiterer Baustein die Einrichtung der Dialogforen, in denen von den Akteuren konkrete, branchenspezifische Maßnahmen zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung erarbeitet werden.

Gesundheit und Nachhaltigkeit gehören zusammen

Ein weiterer wichtiger Punkt, auf den sowohl die Grünen als der WBAE aufmerksam machen, ist gesunde Ernährung. Die Produktion von hochqualitativen, gesundheitsfördernden Lebensmitteln sowie entsprechende umfangreiche Kompetenzen der Bevölkerung sind Teil von zentralen politischen Zielen, die der WBAE Big Four nennt: Gesundheit, Soziales, Umwelt und Tierwohl.

Eine Studie vom Robert Koch-Institut aus dem Jahr 2017 zeigt, mehr als die Hälfte der deutschen Erwachsenen leiden an Übergewicht oder Adipositas, deswegen ist die nachhaltige gesunde Ernährung eines der wichtigsten und der schwierigsten Ziele. Soziale Normen, Arbeitsbedingungen und gesellschaftliche Umgebung beeinflussen das Konsumverhalten. "Wir sind süchtig nach Konsum. Dies ist besonders während der Feiertage ausgeprägt", erklärt Renate Künast.

Sie sieht das Problem im Wirtschaftssystem. Orientierung an Weltmärkten und Überproduktion fördern die Benutzung von billigen Rohstoffen, Zucker und Palmfett. Der Respekt vor Lebensmitteln sei nicht mehr da. "Die Menschen mit Übergewicht sind heute die Risikopatienten mit Blick auf Corona. Das wissen wir bei anderen Erkrankungen auch schon. Alles in diesem Thema gehört zusammen", sagt ehemalige Ernährungsministerin.

Umwelt- und Tierschutz sind eng mit dem sozialen Wohlbefinden verbunden. Laut der Umfrage von Appinio verweigern 64 Prozent der Deutschen auf Grund des hohen Preises den Einkauf von Bio-Lebensmitteln. Das bedeutet, dass der Vorschlag der Grünen "Klasse statt Masse" derzeit nicht realisierbar ist. Aber Renate Künast glaubt, diese Produkte würden nicht teurer. Sie behauptet: "Mit 'Klasse statt Masse' meine ich nicht die Luxusprodukte, sondern etwas mit hoher Qualität: eine gute Kartoffel, ein guter Tabak oder gute Tierhaltung. Wir brauchen eine neue Strategie. Wir müssen als Opposition, als Regierung und als Kunden mehr Druck machen."

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